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Tektonik – die Differenzierung und Symbiose von Architektur und Ingenieurswesen
Patrik Schumacher, London 2012
Beitrag zum Katalogbuch ‘Tragende Linien - Tragende Bearing Flaechen’, Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW e.V., Herausgeber: Ursula Kleefisch-Jobst et al., Edition Axel Menges, Stuttgart/London 2012

 

Unser Fortschritt mit ständig steigendem Leistungsanspruch in Bezug auf die gebaute Umwelt,
wie auch in anderen Gesellschaftsbereichen, bedingt die Notwendigkeit verstärkter Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams. Interdisziplinäre Bemühungen laufen nicht gegen das Prinzip von funktionaler Differenzierung (Arbeitsteilung); sie bilden eher die nötige Ergänzung zur wachsenden funktionaler Differenzierung, insbesondere wenn die Erwartungen eine ständig schnellere Innovation verlangen. Interdisziplinäre Arbeit fördert nicht das Verwischen von Fachgrenzen. Genau das Gegenteil ist der Fall: Effektive interdisziplinäre Arbeit bedingt, daß die verschiedenen Kompetenzen, welche zu einem erfolgreichen Projekt beitragen sollen, klar abgegrenzt sind.

Die Abgrenzung von Architektur und Bauingenieurswesen
In Bezug auf innovative Gestaltung unserer gebauten Umwelt ist das Entwurfsteam entlang der Trennlinie Architektur – Technik aufgeteilt. Die gleiche grundsätzliche Trennung besteht bei der Produktgestaltung, ja in allen gestalterischen Disziplinen, inbegriffen die Mode. In Bezug auf die gebaute Umwelt ist der technische Teil weiter unterteilt in eine ständig wachsende Anzahl von Spezialisierungen. Jedoch die Haupttrennung bleibt zwischen Architektur und Ingenieurswesen.
Die Trennung entstand in den vergangenen 200 Jahren und resultierte schließlich in zwei ausgeprägten, unabhängigen, ja nicht zu vereinbarenden Welten, oder, genauer gesagt, in der Terminologie meiner Theorie der architektonischen Autopoiesis1, in autopoietischenen Systemen. Architektur und Bauingenieurswesen – oder Design und Ingenieurswesen –  stellen unterschiedliche Diskurse dar, die nunmehr genau definiert werden können, jede mit ihren individuellen Verantwortlichkeiten, Kompetenzen, Konzepten, Methoden, Werten und Erfolgskriterien. Diese Diskurse können unter Niklas Luhmanns Kategorie von gesellschaftlichen Funktionssystemen2 subsumiert werden. Gemäß Luhmann arbeitet die moderne (functional differenzierte) Gesellschaft mit autonomen, selbstreferentiell geschlossenen Kommunikationssystemen, wie etwa Wirtschaft, Politik, Recht (Justiz), Wissenschaft, Kunst usw. Jedes dieser Systeme dient einer einzigartigen Gesellschaftsfunktion und beansprucht exklusive und umfassende Verantwortlichkeit und Kompetenz für ihr Gebiet. Es ist eine der Prämissen der Theorie architektonischer Autopoiesis, daß Architektur (zusammen mit anderen Gestaltungsbereichen) eine wichtige gesellschaftliche Funktion hat, genau im Sinne von Luhmanns oben aufgezählten Gesellschaftsbereichen.3 Das bedeutet, daß die Grenze zwischen Design und Ingenieurswesen viel schärfer gezogen werden kann, als izwischen den Unterdisziplinen die jeweils in diesen Bereichen definierbar sind. Architektur kann sich zeitweilig mit Innenraum- oder Möbeldesign verbinden, welche wieder in Produktdesign oder Modedesign münden können. Diese Grenzen sind eher fliessend. Die Schlüsselkonzepte und Werte bleiben die gleichen. Der gleiche übergreifende Charakter vereint die Ingenieursdisziplinen von Tragwerks- und Fassadenplanung oder Ausrüstungstechnik und Nachhaltigkeitstechnik. Auch hier sind Konzepte und Werte grundsätzlich dieselben. Im Gegensatz dazu ist die Grenze zwischen Architektur und Design auf der einen Seite und den Ingenieurswissenschaften auf der anderen Seite scharf gezogen und unverrückbar. Hier sollten wir keine Annäherungsversuche erwarten. Statt dessen sollten wir auf eine Klärung und schärfere Bestimmung der Grenze hinarbeiten, im Sinne klarer Zuständigkeiten und Erfolgskriterien für beide Seiten. Zum Beispiel sind in den vergangenen Jahren Ingenieure zunehmend an der Planung von Fassaden beteiligt. Ingenieure beschäftigen sich auch mit den technischen Details im Innenausbau. Diese Aspekte waren bisher Sache des Architekten, was beweist, daß die Fokussierung der unverzichtbaren Kernkompetenz des Architekten fortschreitet.

Die gesellschaftliche  Funktion der Architektur
Wie wollen wir nun die besondere gesellschaftliche Funktion von Architektur/Gestaltung und deren
Zuständigkeiten bestimmen? Wenn meine Demarkationstheorie richtig ist, muß Architektur so bestimmbar sein, daß keine Verwechslung mit dem Bauingenieurswesen möglich ist. Bevor ich das versuche, möchte ich leicht erkennbare Kriterien aufzählen. Während der Ingenieur hauptsächlich (ausschließlich) mit technischer Machbarkeit beschäftigt ist (sein sollte), wird sich (sollte sich) der Architekt hauptsächlich (ausschließlich) der sozialen Funktionalität widmen.4 Während Architekten immer für die formale Gestaltung eines Projekts verantwortlich sind und auf ästhetische Anliegen Wert legen, erheben Ingenieure keinen Anspruch in dieser Hinsicht. Das beleuchtet die Tatsache, daß Architekten ihre Entwürfe gemäß deren Auswirkung auf sinnliche Sozialwesen beurteilen, während Ingenieure vor allem Sicherheit und Wohlbefinden der Betroffenen als physisch-biologische Wesen im Auge haben. Das bedeutet, der wichtigste Beitrag von Architektur ist nicht mehr die Schaffung von schützender Behausung. Das ist nunmehr die Aufgabe der Bauingenieure. Um die besondere Aufgabe der Architektur zu begreifen, müssen wir den weniger ersichtlichen, aber tiefgreifenderen Einfluß unserer gebauten Umwelt auf die gesellschaftliche Entwicklung erkennen,
ein entscheidender Beitrag zur Menschwerdung, zum Heraustreten des Menschen aus der Tierwelt. Die Gesellschaft kann sich nur bei gleichzeitiger Organisierung ihrer Umwelt entwickeln. Der Aufbau einer spezifischen gebauten Umwelt, so planlos, unbeständig und auf Zufall statt auf vorgaengiger Bedarfsanalyse beruhend sie in in ihrer Entstehung auch sein mag, ist eine notwendige Bedingung für den Aufbau einer stabilen Sozialordnung. Der stufenweise Aufbau eines Sozialsystems muß Hand in Hand mit dem Aufbau einer künstlichen Raumordnung gehen. Soziale Ordnung benötigt räumliche Ordnung. Der gesellschaftliche Entwicklungsprozeß braucht die gebaute Umwelt als materielles Substrat der kulturellen Evolution.  Die gebaute Umwelt akkumuliert physische Ordnungsstrukturen, die dem Aufbau und der Stabilisierung sozialer Strukturen dienen, und die die Entwicklung und Fixierung immer komplexerer sozialer Abläufe ermöglichen. Die gebaute Umwelt ist damit eine Art gesellschaftliches Gedaechtnis. Sie dient als ordnender Rahmen der sozialen Interaktion. Die räumliche Ordnung des menschlichen Habitats dient sowohl als physischer Ordnungsapparat, der die Mitglieder der Gesellschaft und deren Aktivitäten trennt oder verbindet, als auch als mnemotechnisches Substrat für die Institutionalisierung von spezifischen Kommunikationsmustern. Diese gebauten “Inschriften” mögen anfänglich ein ungewolltes Nebenprodukt verschiedener Aktivitäten sein. Sodann werden die entstandenden Baulichkeiten funktional weiter adaptiert und ausgebaut. Danach werden sie mittels Ornamenten akzentuiert, um sie auffälliger zu machen. Das Resultat ist die langsame Entwicklung eines raum-morphologischen Bedeutungssystems. So entsteht eine semantisch angereicherte Umwelt, die ein differenziertes System von spezifischen Raumangeboten bildet, welches den sozialen Akteuren Orientierung und Anhaltspunkte in der Vielfalt der sozialen Situationen bietet, die den sozialen Lebensprozeß der Gemeinschaft ausmachen.
Das System der Raumangebote als ein System von Unterschieden und Beziehungen benützt sowohl die räumliche Identifikation von Plätzen (relative Raumposition) als auch die morphologische Identifikation von Plätzen (relative ornamentale Markierung) als Stützen im kommunikativen Prozeß. In der sozialen Anthropologie gibt es viele Hinweise auf das Abhängigkeitsverhältnis von sozialen und räumlichen Strukturen. Sie beweisen damit die entscheidende Bedeutung von generationsübergreifenden, stabilen raum-morphologischen Einrichtungen (Siedlungsstrukturen) für die Entwicklung und Stabilisierung jeder Gesellschaft.5 Geeignete Plätze regulieren gesellschaftlichen Austausch, indem sie Situationen klarstellen, die Teilnehmer erinnern, wer sie sind, und deren relative Stellung festlegen, indem sie etwa die Spitze des Tischs für den Führer einer Gruppe bereithalten. Die semiologische Dimension der gebauten Umwelt ist immer schon aktiv, seid den Anfängen der menschlichen Gesellschaft. Seit der Renaissance hat sich die Entwicklung der gebauten Umwelt von traditionsgebundener Reproduktion emanzipiert und der akademisch-professionellen Architektur mit explizitem Innovationsbewusstsein überantwortet. Das hat zu einer Beschleunigiung der Entwickung geführt. Seiher ergibt sich die Notwendigkeit der bewußten Suche nach semiologischem Ausdruck als Aspekt des architektonischen Entwurfs. Die Bedeutung der räumlich-morphologisch spezifizierten Orte als bestimmender Rahmen für gesellschaftliche Kommunikation wird auch von den Soziologen bestätigt. Zum Beispiel war Erving Goffman von der Notwendigkeit von Rahmenbedingungen und »Ansammlung von Hinweiszeichen« zur Strukturierung gesellschaftlicher Kommunikation überzeugt: »Erst kommt die ›Ausstattung‹ von Räumen, die Anordnung von Möbeln und anderen Requisiten, welche Bühne und Szene abgeben für den Schwall menschlicher Handlungen vor, auf und in ihnen. Geographisch gesprochen, bleibt die Bühne unverändert, so daß jene, die eine spezielle Szene für ihren Auftritt benutzen, mit der Vorstellung erst beginnen können, wenn sie am richtigen Platz sind, und sie müssen Schluß machen, wenn sie die Szene verlassen.«6 Das trifft immer noch auf die gegenwärtige Netzwerk-Gesellschaft zu. Die gebaute Umwelt ist weiterhin ein mächtiges Werkzeug zur Sortierung und Organisation von Menschen und deren Handlungen. Die Szene samt den beweglichen Gegenständen wie Möblierung, Werkzeug, Kleidung usw. bestimmt die gesellschaftliche Kommunikation. Architektonische Ausstattungen werden als rahmende Kommunikationen entworfen, als permanente Signale, die dauerhaft alle zukünftigen Ereignisse in diesem Raum mitbestimmen. Sie definieren darüber hinaus den Aufbau sozialer Institutionen. Jede Gesellschaft braucht artikulierte Raumbedingungen, um ihre Sozialkommunikation zu rahmen, zu ordnen und zu festigen. Das bringt uns zu folgender Definition: Das autopoietische System der Architektur hat in der modernen, funktionell differenzierten Gesellschaft die Funktion, kommunikative Interaktion zu rahmen.  Die Architektur muß an der ständigen Neuordnung gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse mitarbeiten, mittels einer innovativen, gebauten Umwelt, die als ordnendes, rahmendes System für gesellschaftliche Kommunikation funktioniert.

Tektonische Artikulation
Wir unterschieden das technische Funktionieren unserer gebauten Umwelt von seiner sozialen
Brauchbarkeit. Während das technische Funktionieren die physikalische Integrität, Ausführbarkeit
und Leistung eines Bauwerks im Verhältnis zu den Benutzern als physisch-biologische Wesen versteht, muß Architektur die soziale Funktion eines Bauwerks in Betracht ziehen, also seine Wirkung
als ordnendes und leitendes Element, das dank seiner Erscheinung und Lesbarkeit für soziale Wesen wirkt. Die Kernkompetenz von Architektur liegt also ihn ihrer Aufgabe, ausdrucksvoll und verständlich zu sein. Lesbarkeit bedarf zweierlei: Wahrnehmbarkeit und einen erkennbaren informativen Inhalt.
Demnach unterscheiden wir phänomenologische und semiologische Artikulation. Die Theorie architektonischer Autopoiesis präsentiert also das phänomenologische Projekt und das semiologische Projekt als zwei Schlüsselaufgaben architektonischer Gestaltung.7
Das Verhältnis zwischen der technischen und gestalterischen Dimension der gebauten Umwelt führt zum Konzept von Tektonik, hier verstanden als die Auswahl und Instrumentalisierung von zunächst technisch motivierter Formen und Details zur architektonischen Artikulation mit Hinblick auf Lesbarkeit. Es gibt viele Beispiele in der Baugeschichte, wo bauliche Elemente und Merkmale mit technischer Funktion zu ausdrucksstarkem Ornament werden. Das ist das Gebiet der Tektonik. Für viele Architekturtheoretiker ist Tektonik die Essenz von Architektur. Für diese Theoretiker ist aber das Anliegen von Tektonik meistens die didaktische und visuelle Erklärung der materiellen und technischen Zusammensetzung eines Gebäudes. Die Theorie der architektonischen Autopoiesis lehnt diese Auffassung von Tektonik als Ablenkung von der gesellschaftlichen raison d’être der Architektur ab. Im Folgenden wird der Tektonik ihr spezifischer Ort in der Rationaliät der Disziplin angewiesen.
Wie kann ein Entwerfer die soziale Funktion eines baulichen Raumes oder Elements artikulieren?
Was dient als Substrat für seine/ihre Bemühungen der Artikulierung? Wir unterscheiden die technischen Bebäudefunktionen von den sozialen Funktionen der Gebäude. Die Unterscheidung von diesen Funktionsdimensionen ist wichtig, um die Zuständigkeiten des interdisziplinaren Entwurfsteams festzulegen und um die Suche nach jeweils relevanten, funktionalen Substitutionsmoeglichkeiten zu befördern. Ein und dasselbe Bauelement – z.B. eine Wand – kann auf mehreren Ebenen operieren: Es erfüllt sowohl technische Funktionen (Tragfunktion, thermische Isolierung) als auch Artikulations- und Ordnungsfunktionen (Bereichsabgrenzung und anschauliche Bereichscharacterisierung). Auf jeder der Ebenen kann der Designer nach funktionalen Äquivalenzen für den Einsatz der Wand suchen. Daraus können sich ganz alternative Lösungen ergeben. Die tragende Funktion einer Wand kann von Säulen übernommen werden, die Trennung von Bereichen kann mittels durchsichtiger Materialien geschehen oder durch einen Niveauunterschied. Stimmungsunterschiede können mittels Änderung des Boden- oder Deckenmaterials erzielt werden. Der Entwurfsprozeß könnte in folgender Sequenz ablaufen: Raumordnung, technische Aufgaben, Erscheinungsbild/optische Wirkung. Nur die technischen Aufgaben und Materialwahl sollten zusammen mit Ingenieuren behandelt werden. Der in Materialien umgesetzte Entwurf, Materialien zunächst ausgewählt gemäß ihrer technischen Effizienz, ergibt ein Resultat von einem bestimmten Aussehen. Bevor wir etwas zur weiteren Artikulierung hinzufügen, sollten wir prüfen, ob das technisch gegebene Material nicht schon unseren Ansprüchen an visuelle Charakterisierung genügen kann. Die technische Materialwahl hat also auch eine visuelle Funktion, eine Artikulationsfunktion.
Der ursprünglich unbewußte, evolutionäre, historische Prozeß der Entwicklung von Baustilen wird mittels dem expliziten Begriff der “Tektonik” zu einer bewußten Entwurfsstrategie, allerdings oftmals mit der Tendenz, den tektonischen Ausdruck als Ende an sich darzustellen, statt dessen wichtige soziale Funktion der Raumartikulation zu betonen. Struktureller Expressionismus als Entwurfsgrundlage und Selbstverständnis ist ein Beispiel für die fragwürdige Hypostase des tektonischen Ausdrucks. Jedoch macht solch ein fragwürdiges Selbstverständnis das Entwurfsprinzip selbst und sein tektonisches Resultat nicht unbedingt ungültig.
Wenn wir Tektonik als strategische Anwendung der technisch induzierten Morphologie von baulichen Elementen zur Artikulation sozialer Funktionen definieren, dann können wir die Tektonik theoretisch rationalisieren und mit der Theorie des Form-Funktion-Verhältnisses integrieren. Wir können diese Form des Einsatzes von technischen Details tektonische Artikulation nennen. Zum Beispiel: Die konstruktiv-statische Logik den Querschnitt der Bauteile deren lokaler statischer Belastung differenziert anzupassen, kann für den architektonischen Ausdruck herangezogen werden. So kann das Tragwerk eines Turmes nach außen als differenziertes Exo-Skelett dargestellt werden. Es könnte sich entlang der Vertikalachse graduell verändern, in allmählicher Wandlung von massiv zu filigran. Der Differenzierung des statischen Systems könnte ein funktional differenziertes Raumprogramm entsprechen.
Geschichtlich gesehen, hat der Wandel einer technisch bedingten Form zu einem Motiv des Ausdrucks diese Form konventionell fixiert. Die formale Bedeutung beginnt zu dominieren. Oftmals gewinnt sie eine selbständige Dynamik, und schließlich kann sich der technische Gehalt eines Motivs ändern, oder ein Motiv verliert seine ursprüngliche Daseinsberechtigung. (In diesem Fall sollte das Motiv aufgegeben werden.) Das geschah mit den Einzelheiten der klassischen Ordnungen, als sie vom Holzbau in den Steinbau übersetzt wurden. In diesem Fall bleibt die Ausdrucksfunktion des Motivs erhalten, es ist nicht bloße Dekoration ohne Inhalt. (Ornament verleiht Bedeutung.) Jedoch handelt es sich hier nicht mehr um tektonischen Ausdruck in unserem Sinn. Die Theorie der architektonischen Autopoiesis anerkennt die Rationalität tektonischer Artikulation. Sie ist kein selbstbezogenes Bestreben und muß der Förderung einer sozialen Funktion untergeordnet sein. Der Vorteil tektonischer Artikulation ist der Einsatz von etwas, was ohnehin technisch notwendig ist, zum Zweck der phänomenologischen und semiologischen Artikulation. Das Gestaltungsprogramm wählt die engültige Lösung aus allen phänomenologischen und semiologischen Anforderungen aus. Ein gewisser Nachteil besteht darin, daß die Ausdrucksbandbreite eingeschränkt ist, wenn man sich auf technisch angesagte Morphologien beschrschränkt, anstatt frei zu ornamentieren. Das bedeuted, daß diese Strategie versagt, wenn die Aufgabe der Artikulation sehr komplex ist. Zum Beispiel kann das Zeigen der Primärstruktur zur Charakterisierung und Atmosphäre von gewissen Räumen sehr effektiv sein. Die innere Ordnung großer Räume kann durch Differenzierung der Konstruktion gefördert werden. Längs- und Querrichtungen des Raumes können mittels der Richtung der Hauptbalken betont werden. Die Mitte des Raumes wird durch strukturell sinnvolle, größere Tiefe der Balken akzentuiert usw. Solche Akzentierungen können zur Orientierung in großen, aber visuell unterteilten Räumen, wie etwa einem Markt, dienen. Wenn aber ein reiches Netz von verschiedenen und verschiedentlich abhängigen Räumen Ausdruck finden soll, kann der Einsatz einer technisch relativ homogenen Konstruktion den vielfältigen Ausdrucksanforderungen nicht mehr genügen.  Andererseits der Konstruktion einen differenzierten Ausdruck aufzuzwingen, kann überzogen wirken und unbezahlbar sein. In diesem Fall kann die Konstruktion von einer abgehängten Decke verdeckt werden, die anpassungsfähiger ist und damit dem phänomenologischen und semiologischen Gestaltungsprogramm entgegenkommt. Die abgehängten Decke lässt sich viel freier gestalten. Tektonischer Ausdruck kann daher nicht absolute Priorität haben. Ausdruck und Sinngebung, mit welchen Mitteln auch immer, hat Vorrang. Trotzdem ist tektonischer Ausdruck befriedigender als »freier« Ausdruck. Die Einbindung der technisch notwendigen Materialien in die gestalterische Sinngebung ist immer eleganter als deren Verschleierung. Damit Architekten einen tektonischen Effekt erzielen können, müssen sie die Ingenieurarbeit führen und orchestrieren, um sodann jene konstruktiven Möglichkeiten auszuwählen, die ihrer Hauptaufgabe, der kommunikativen Rahmung sozialen Interaktionen, am besten dienen.
Die anpassungsfähige Differenzierung der Konstruktion sowie die adaptive Differenzierung der Gebäudehülle gemäß den Umweltbedingungen des Bauwerks (Einfluß von Sonne, Wind, Regen usw.) bieten viele Möglichkeiten der differenzierten tektonischen Artikulation. So ein gesetzmäßig bestimmtes bauliches Umfeld wäre viel lesbarer und begreiflicher als die modernistische, monotone Ordnung der endlosen Serialität. Mit der Entwicklung digitaler Entwurfsmethoden – sowohl in der Architektur als auch im Ingenieurwesen – wurden die Möglichkeiten nuancierten tektonischen Ausdrucks sehr ausgeweitet. Die Anpassung der Konstruktion an den Kräfteverlauf in einem Tragwerk bietet großartige Möglichkeiten für die Erzeugung von architektonischer Prägnanz. Im Gegenzug können die immer komplexeren Raumgebilde der zeitgenössischen Architektur jetzt ingenieursmässig umgesetzt (und auch veranschaulicht) werden mittels komplex ausdifferenzierter, digital berechneter Tragstrukturen. Die Ausschöpfung dieses Potenzials verlangt eine intensivierte Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren. Der gegenwärtige Avantgarde-Stil des Parametrismus8 drängt in diese Richtung. Obwohl kein Zweifel besteht, daß Architektur ein vom Ingenieurwesen klar unterschiedener Bereich ist, muß die enge Zusammenarbeit dieser Disziplinen, wie auch die gegenseitige Aneignung ihrer jeweiligen Denkweisen, eine immer wichtigere Bedingung für den Entwurf heutiger Hochleistungsprojekte sein.
Die Fähigkeit, sich im dichten und komplexen urbanen Umfeld zurecht zu finden, ist ein wichtiger Bestandteil unserer heutigen Gesamtproduktivität. Die Postfordistische Netzwerkgesellschaft verlangt von uns, ständig verbunden und informiert zu sein. Wir können es uns nicht leisten, in Isolation zu arbeiten, wenn rundum der Fortschritt weitergeht. Um relevant und produktiv zu bleiben, müssen wir ständig unsere Verbindungen pflegen und unsere Bemühungen mit allen anderen koordinieren. Alle müssen mit allen kommunizieren. In bezug auf die gebaute, urbane Umwelt bedeutet das, dem Stadtbewohner so viele kommunikative Ereignisse wie möglich räumlich konzentriert anzubieten, damit jeder ständig eine umfassende Auswahl von Kommunikationsofferten für die nächste Aktionsentscheidung zu haben. Das geht am besten, wenn unser Blickfeld eine reiche, aber geordnete Szene mannigfaltiger Angebote präsentiert, gleichzeitig auch Hinweise auf dahinter liegenden Ebenen bietet. Die Geschwindigkeit und Treffsicherheit mit der wir neue Erfahrungen und Kontakte machen sind ausschlaggebend. Eine entworfene, gebaute Umwelt, die eine solche Kommunikationsdichte erlauben und herausfordern soll, muss sehr dicht und komplex, aber auch sehr geordnet und anschaulich sein. In dem Maße, wie urbane Komplexität und Dichte wachsen, wird eine effektive Artikulation dringender. Jeder talentierte und erfolgreiche Designer paßt sich intuitiv an das spontan entstehende semiologische System der gebauten Umwelt an. Das Ziel der hier proklamierten architektonischer Semiologie ist es den Schritt von intuitiver Teilnahme an einer entstehenden Semiosis zu einem expliziten semiologischen Entwurfsprogramm zu vollziehen. Das Ziel lässt sich zunächst so verfolgen: Die Gestaltung eines architektonischen Großkomplexes soll als Gelegenheit für die Schaffung eines neuen, kohärenten Zeichensystems, einer neuen, abstrakten architektonischen Sprache begriffen werden, ohne auf die (spontanen, fragmentarischen) Kodierungen und Klischees der gegenwärtigen gebauten Umwelt zurückzugreifen. Der Stil des Parametrismus ist bereit, hochgerüstet mittels digitaler Entwurfstechniken sowie mittels passender Formrepertoires, ein neues Niveau von räumlich-morphologischer Komplexität zu entfalten.

Anmerkungen

1 Siehe: Patrik Schumacher, The Autopoiesis of Architecture, Bd. 1: A New Framework for Architecture,London 2010.

2 Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984; sieheauch: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998.

3 Luhman erkannte nicht den einzigartigen Diskurs von Architektur und Design und dessen gesellschaftliche
Berechtigung. Er beging den Anachronismus, Architektur als eine Kunst im System der Künste zu sehen. Jedoch haben Kunst und Architektur während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich (und endgültig) ihren (bis dahin sehr wohl gemeinsamen) Diskurs abgebrochen.

4 Was ausschließlich die Angelegenheit der jeweiligen Fachrichtung sein sollte, ist bis jetzt nur eine vorrangige (aber noch nicht ausschließliche) Angelegenheit.

5 Bei der Analyse der Sozialstruktur primitiver Gesellschaften dient die Zeichnung der Dorfanlage oft als prägnantester Anhaltspunkt.

6 Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, New York 1959, London 1990, S. 33.

7 Siehe: Patrik Schumacher, The Autopoiesis of Architecture, Bd. 1: A New Framework for Architecture,
London 2012, besonders: Abschnitt 6.6. »The Phenomenological vs the Semiological Dimension of Architecture«.

8 Siehe: Patrik Schumacher, »Parametricism – A New Global Style for Architecture and Urban Design«, AD Architectural Design: Digital Cities, Jg.79, Nr. 4, Juli/August 2009, Gastredakteur: Neil Leach, Hauptredakteurin: Helen Castle.

 


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