back to WRITINGS

 

Paedagogisches Programm  =  Forschungsprogramm
Patrik Schumacher with Zaha Hadid, London 2009
Published in: Gerald Bast & Brigitte Felderer, Art and Now – Ueber die Zukunft Kuenstlerischer Produltivitaetsstrategien, Springer Verlag, Wien/New York 2010

 

 

In der Architektur ist die Lehre an den Hochschulen eine von zwei Formen der Quasi-forschung. Es gibt in der Architektur keine institutionalisierte Forschung, d.h. es gibt keine Forschungszwecken gewidmeten Resourcen.  In den meisten Disziplinen ist der Universitaetsbetrieb in Forschung und Lehre geteilt. In den Architekturschulen sind Professoren und Assistenten voll und ganz mit der Studentenbetreuung beschaeftigt. Es scheint so als waeren Architekturschulen reine Lehrbetriebe. Dennoch findet Architektur- oder Entwurfsforschung statt - zumindest in den ambitioniertesten Hochschulen  -  insoweit als hier nicht nur etabliertes  Wissen vermittelt und eingeuebt wird, sondern vielmehr kreativ neue Architekturansaetze  angebahnt und verfolgt werden. Die Zeit und Energie der Studierenden ist hier die entscheidende Resource der Forschung. Die Form der Forschung ist meistens Entwurfsforschung, d.h. ueber bestimmte Entwurfsaugaben gesteuerte Forschung. Allerdings sind zumeist sowohl zusaetzliche thematische Fokussierungen vorgegeben, als auch methodische Vorgaben.

Akademische Forschung

In der Meisterklasse Hadid  ist der Schwerpunkt auf eine spezifisch fokussierte Repertoire-entwicklung angelegt, mit dem Anspruch an der Stilentwicklung der Gegenwartsarchitektur mitzuarbeiten. Diese Forschungsarbeit wird an hand von Entwurfsprojekten in Gruppenarbeit geleistet. Die Professoren und Assistenten formulieren das Forschungsprogramm, mit klar artikulierten Ambitionen. Die besten Studenten extrapolieren, intensivieren und radikalisieren diese Ambitionen. Die Ergebnisse sind zumeist prinzipieller und radikaler als die Berufspraxis der Professoren und Assistenten.
Die Innovationsarbeit ist in Episoden mit einer Laufzeit von je einem akademischen Jahr organisiert, allerdings verkettet zu einem langfristig angelegten Forschungsprogramm. Im Sinne dieser langfristig angelegten Programmatik ist die ungewoehnliche Organisationsform der Meisterklasse vorteilhaft gegenueber dem Normalfall im Semesterrhythmus wechselnder Kurse.  Die Studenten arbeiten in einer Meisterklasse fuer die gesammte, fuenfjaehrige Laufzeit ihrer Ausbildung, so dass ein sukzessiver, kollektiver Aufbau von spezifischem Wissen und Koennen geleistet werden kann. Es kann kumulativ gearbeitet werden.

Avant-gardeforschung

Eine zweite Schiene der Forschung ist in der Differenzierung der Architektur in Avant-garde und Main-stream angelegt. Die Avant-garde ist quasi die zweite Forschungsabteilung der Disziplin. Auch diese, zweite Schiene funktioniert im Sinne einer Zweckentfremdung von Resourcen. Im Falle der Architekturschulen handelt es sich um Lehrmittel und die Arbeitszeit der Studenten, im Falle der Avant-garde handelt es sich um Projektresourcen, die in Richtung auf Forschung umgelenkt werden. Ein Klient, der ein Architekturbuero der Avantgarde anheuert, muss damit rechnen, dass die aktiv verfolgten Projektziele ueber die vom Klienten gesetzten Ziele erweitert werden, und zwar im Hinblick auf Ausnutzung des Projektes fuer Forschungszwecke. Avantgarde Projekte sind immer auch Forschungsinstrumente und damit Instrumente der Stilentwicklung: Gestaltungsexperimente, Architekturhypothesen, oder auch gebaute Manifeste bestimmter theoretischer Positionen. Die Bedeutung von Avantgarde Projekten geht damit immer ueber die konkrete, lokale Aufgabe hinaus. Das Avantgarde Projekt zielt auf verallgemeinerbare, zukunftweisende Loesungskonzepte ab, im Hinblick auf aktuelle, emergente, gegesellschaftliche Herausforderungen. Projektambition und Klientenziele harmonieren insoweweit sich die Ziele des Klienten auf aktuelle, verallgemeinerbare, gesellschaftliche Herausforderungen beziehen lassen1. Das ist oft der Fall. Allerdings sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich an einem bestimmten Projekt abzeichnen und akzentuieren lassen meist vielgestaltig. Damit bleibt ein Spielraum der Interpretation des Projektes im Sinner einer ganz bestimmten, thematischen Fokussierung und Ueberhoehung. Die vom Architekten anvisierte thematische Ueberhoehung ist dabei nicht unbedingt mit dem Selbstverstaendnis des Klienten identisch. Bei Wettbewerben wird dieser moegliche Konflikt von vorneherein produktiv aufgehoben: Hier werden die Interpretationsangebote und thematischen Projektschwerpunkte zusammen mit der Entwurfsloesung praesentiert und ausgewaehlt. Totzdem bleibt insgesammt die thematische Fokussierung der Architekturforschung mittels Avantgarde Praxis, wegen der Notwendigkeit einer Harmonisierung mit den Zielen des Klienten, eingeschraenkt. Die Abhaengigkeit von einer arbitraeren Serie von Auftraegen erschwert die Entwicklung eines kohaerenten Forschungsprogrammes. Nur wenige Architekten schaffen es, kohaerente Projektserien zu entwicklen in denen Forschungsfokussierung und Stilentwicklung  sich gegenueber trivialen Idiosynkrasien dezidiert durchsetzen und damit ein kohaerentes Oevre entstehen lassen. Im akademischen Teil der Architekturforschung fallen diese direkten Abhaengigkeiten weg. Hier koennen thematische Forschungsschwerpunkte, und dazugehoerige  Erfolgskriterien, frei gewaehlt werden.  Darin liegt der Vorteil der akademischen Entwurfsforschung. Darin liegt aber auch die Gefahr der Irrelevanz. Die Richtung  des Forschungsprogramms muss historisch stimmen; ausserdem muss der Grad an Realismus richtig kalibriert werden.

Forschungsprogramm

Die Meisterklasse Hadid ist fuer uns eine Resource und Herausforderung zugleich. Wir haben ein klares Forschungsprogramm  - sowohl in Bezug auf unsere Praxis als auch in Bezug auf unsere Lehre. Unsere Parole für die künftige Architekturentwicklung lautet: Parametrisch-dynamische Artikulation von Komplexität! Diese Parole bezieht sich auf die Notwendigkeit die steigende gesellschaftliche Komplexität  – Vielfalt und Beziehungsdichte in den Lebenprozessen –  im Hinblick auf schnelle, zielsichere Orientierung/Navigation zu artikulieren. Dazu bedarf es eines neuen Gestaltungsrepertoires. Der Begriff der parametrischen Dynamik bezieht sich auf die Schlüsselfunktion, die wir dabei avancierten digitalen Entwurfswerkzeugen zusprechen. Die nächste Generation von urbaner und architektonischer Komplexität lässt sich nur noch mittels parametrisch-assoziativer Entwurfstechniken ausarbeiten. Diese Arbeitsweise produziert in der Tat keine Räume, sondern global integrierte und kontinuierlich differenzierte Feldstrukturen.
Der Raumbegriff war der Kernbegriff der modernen Architektur. Architektur war hier als Gestaltung von Raum definiert. Diese Abstraktion erreicht gegenüber der klassischen Architektur, die auf das Nachzeichnen von in Geometrie, Proportion und Tektonik komplett vorgezeichneten Gebäudeformen  - Villa, Stadthaus, Palast, Kirche –  angelegt war, einen enormen Gewinn an Freiheit und Adaptionsfähigkeit in Bezug auf die explosive Proliferation der Bauaufgaben. Mit dem Raumbegriff kam die freie Disposition von Volumen, je nach funktionaler Notwendigkeit. Die Volumen werden geöffnet, und der Raum ist als Kontinuum von Innen- und Aussenraum gedacht. Dabei fokussiert der Raumbegriff die Aufmerksamkeit weg von den massiven Bauteilen und tektonischen Elementen hin zu den Aktivitäten, die es zu rahmen gilt. Das macht Sinn, wenn die Vielgestaltigkeit der zu behausenden Aktivitäten über traditionell selbstverständliche Stereotypie hinausgeht.

Vom Raumbegriff zum Feldbegriff

Für die weitere Freiheits- und Komplexitätsgewinne sollte die Architektur allerdings vom Raumbegriff zum Feldbegriff übergehen. Die moderne Gestaltung des Raums bleibt nämlich auf Kompositionen beschränkt, d.h. eine kleine Anzahl von diskreten Volumen wird überschaubar aufeinander bezogen. Der Raum ist so nachvollziehbar gerahmt.
Raum ist leer. Felder sind voll. Das architektonische Feld ist von der Analogie des Feldbegriffes der Physik her gespeist  -  vielleicht am anschaulichsten am Beispiel von Magnetfeldern gegeben. Wir können auch an bewegte Flüssigkeiten denken, mit Strudeln, Wellen und Interferenzen, oder an dynamische Schwarmformationen. In der Welt der Felder gibt es keine abzählbaren, diskreten Teile, sondern nur Teilchen, die sich zu ständig variierenden Mustern zusammenziehen.  Anstatt von außen her durch Umgrenzungslinien, sind Felder von innen heraus, mittels gradierter Feldqualitäten strukturiert: Dichteverteilung, Ausrichtung, Agitationsgrad etc. Über Feldqualitäten charakterisierte Zonen gehen fließend ineinander über, oder durchdringen einander. Navigation funktioniert hier über Transformationsvektoren, und nicht mehr anhand von Landmarken oder Raumsequenzen. Ein Gefühl dafür bekommt man in den endlosen, unterirdischen Shopping Centern in Seoul, oder wenn man sich als Besucher ohne Vorplanung in ausufernden Metropolen wie London treiben lässt. Dann werden Feldqualitäten, wie der dorthin abfallende oder sich hierhin aufbauende Grad der Urbanität zum Orientierungsgerüst. Dieses Prinzip lässt sich mit den neuen Stilmitteln und Methoden, die wir entwickeln, intensivieren. Komplexe Feld-strukturen mit kontinuierlich differenzierten Feld-qualitaeten lassen sich mit Schwärmen von parametrisch definierten, kontextsensitiven Genotypen („generativen Komponenten“) aufbauen, deren Feldverteilung und Ausdifferenzierung miteinander korrelieren und von untergelegten Datensätzen angetrieben werden. Damit experimentieren wir unter dem Titel „Parametric Urbanism“.
Dabei kommt es zu einer vorbehaltlosen „ideologischen“ Positionierung  - wir wollen in komplexen Feldern leben -, die diesen Projekten Manifesto-charakter zuspricht. Position zu beziehen heißt Unsicherheit zu absorbieren, um zunächst Diskussionsfähigkeit (und später Handlungsfähikeit) zu erzeugen.

Bifurkation der Forschung

Das Avantgarde-segment der Architektur ist ein spezialisierter Kommunikationszusammenhang, der für die permanente Innovation der gebauten Umwelt verantwortlich zeichnet. Der Ansporn zu permanenter Erneuerung ist über den hier beanspruchten gesellschaftlichen Universalwert der Orginalität verankert. Es lassen sich zwei zunächst unabhängige Ausrichtungen der Innovationsarbeit unterscheiden: Die Auseinandersetzung mit den fortschreitenden gesellschaftlichen Anforderungen einerseits und die Steigerung der architektonischen Entwurfsmittel andererseits. Zur Zeit äussert sich diese Bifurkation in der gleichzeitigen Prominenz von zwei parallelen Avantgarde-Gruppierungen: Der auf Koolhaas zurückgehenden „holländischen“ Tendenz mit Themen wie Peripherie oder Brand-culture einerseits, und der auf Eisenman zurückgehenden „amerikanischen“ Tendenz mit Entwurfstechniken wie Folding und Morphing andererseits. Dabei fällt auf dass diese Bifurkation die Avantgarde entlang der Unterscheidung von Form und Funktion aufspaltet. Der Diskurs der Holländer negiert die Form. Der Diskurs der Amerikaner negiert die Funktion. Insoweit wir diese Paralleldiskurse als Arbeitsteilung auffassen können, lassen sich hier durchaus Produktivitätsgewinne ausmachen: Es lässt sich eben wesentlich schneller und durchgreifender ein neues Formen-Repertoire aufbauen solange die gesellschaftliche Signifikanz ausgeklammert bleibt. Umgekehrt geht es mit der Aufbereitung neuer gesellschaftlicher und urbaner Herausforderungen wesentlich schneller, wenn man nicht gleichzeitig schon neue, raffinierte architektonische Lösungen anbieten muss (anstatt nur plakativ zu provozieren). Diese Arbeitsteilung ist unausweichlich, und damit rational, insoweit irgendwann und irgendwo Integrationsbemuehungen stattfinden, die die unabhängige Anhäufung von interessanten Problemen und abstrakten Loesungskapazitaten einer wechselseitigen Selektion aussetzen. Die Meisterklasse hat sich ganz bewusst diese Aufgabe gestellt, naemlich die zwei prinzipiellen Strömungen der Avantgarde zusammenzuziehen und die neuen Entwurfstechniken und Formenrepertoires auf spezifisch daraufhin ausgewählte gesellschaftliche Problemlagen anzusetzen.
Eine neue Aufgabe mit der wir immer wieder, in verschiedenen Regionen der Weltgesellschaft, in der Praxis konfrontiert sind, ist die Erfinding ganzer Stadtfelder. Hier ist das Verhaeltnis von einschraekendem Umfeld und dem neu zu Entwickelden Architekturbeitrag ganz anders als in den Bauaufgaben, die wir als Architekten in Europa in den letzten 30 Jahren gewohnt sind. Die neue Aufgabe verlangt das Stadtgeometrie, Stadtmorphologie, Funktionsverteilung und architektonische Ausformulierung auf einmal geleisted werden. Diese Notwendigkeit ist zugleich eine unerhoerte Gelegenheit fuer kreative Entfesselung. Die Umgebung gibt dabei zumeist wenig Anhaltspunkte, denn sie steht selbst zur Disposition. Das neue Stadtfeld muss eine starke Eigenlogik entwickeln. Normalerweise geben sich Staedtebau und Architektur gegenseitig enge Grenzen vor. Diese gegenseitige Eingrenzung ist hier aufgehoben. Etwas radikal neues kann hier entstehen. Ein Innovationschub wird moeglich. An dieser Aufgabenstellung hat die Meisterklasse, unter dem Stichwort “Parametric Urbanism” gearbeitet.

 


1 Hier kann es Zielkonflikte mit dem Klienten geben, zumindest im Sinne von klientenfremden Zusatzzielen, die besonders dann hervortreten wenn der Klient unzeitgemaesse oder idiosynkratische Anforderungen stellt, die sich nicht verallgemeinern lassen.

 

back to WRITINGS