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Parametrische Dynamik
Patrik Schumacher, London 2007,
Published in: Build Das Architekten-Magazin "Zukunft", Issue 6, December 2007
Ralf F. Broekman und Olaf Winkler im Gespräch mit Patrik Schumacher

Patrik Schumacher ist Partner bei Zaha Hadid Architects, Co-director des Design Research Lab (AADRL) an der Architectural Association in London, Lehrbeauftragter an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, und Professor am Institut für Experimentelle Architektur, Universität Innsbruck.

1. Die Methoden zur Produktion von Architektur, ihre Erscheinung und auch ihre gesellschaftliche Wahrnehmung haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Wo liegen die Schwerpunkte künftiger Architekturentwicklung? Verlangt perspektivisches Denken des Architekten möglicherweise nicht nur eine Re-Definition des tradierten Raumbegriffes, sondern eine Abwendung von demselben, bis hin zu einer vollständigen Re-Definition des Begriffes Architektur / des Handlungsfeldes des Architekten?
P.Sch:
Meine Parole für die künftige Architekturentwicklung lautet: Parametrisch-dynamische Artikulation von Komplexität! Diese Parole bezieht sich auf die Notwendigkeit die steigende gesellschaftliche Komplexität  – Vielfalt und Beziehungsdichte in den Lebenprozessen –  im Hinblick auf schnelle, zielsichere Orientierung/Navigation zu artikulieren. Dazu bedarf es eines neuen Gestaltungsrepertoires. Der Begriff der parametrischen Dynamik bezieht sich auf die Schlüsselfunktion, die ich dabei avancierten digitalen Entwurfswerkzeugen zuspreche. Die nächste Generation von urbaner und architektonischer Komplexität lässt sich nur noch mittels parametrisch-assoziativer Entwurfstechniken ausarbeiten. Diese Arbeitsweise produziert in der Tat keine Räume, sondern global integrierte und kontinuierlich differenzierte Feldstrukturen.
Der Raumbegriff war der Kernbegriff der modernen Architektur. Architektur war hier als Gestaltung von Raum definiert. Diese Abstraktion erreicht gegenüber der klassischen Architektur, die auf das Nachzeichnen von in Geometry, Proportion und Tektonik komplett vorgezeichneten Gebäudeformen  - Villa, Stadthaus, Palast, Kirche –  angelegt war, einen enormen Gewinn an Freiheit und Adaptionsfähigkeit in Bezug auf die explosive Proliferation der Bauaufgaben. Mit dem Raumbegriff kam die freie Disposition von Volumen, je nach funktionaler Notwendigkeit. Die Volumen werden geöffnet, und der Raum ist als Kontinuum von Innen- und Aussenraum gedacht. Dabei fokussiert der Raumbegriff die Aufmerksamkeit weg von den massiven Bauteilen und tektonischen Elementen hin zu den Aktivitäten, die es zu rahmen gilt. Das macht Sinn wenn die Vielgestaltigkeit der zu behausenden Aktivitäten über traditionell selbstverständliche Stereotypie hinausgeht.
Für die weitere Freiheits- und Komplexitätsgewinne sollte die Architektur allerdings vom Raumbegriff zum Feldbegriff übergehen. Die moderne Gestaltung des Raums bleibt nämlich auf Kompositionen beschränkt, d.h. eine kleine Anzahl von diskreten, kubischen Volumen wird überschaubar aufeinander bezogen. Der Raum ist so nachvollziehbar gerahmt.
Raum ist leer. Felder sind voll. Das architektonische Feld ist von der Analogie des Feldbegriffes der Physik her gespeist  -  vielleicht am anschaulichsten am Beispiel von Magnetfeldern gegeben. Wir können auch an bewegte Flüssigkeiten denken, mit Strudeln, Wellen und Interferenzen, oder an dynamische Schwarmformationen. In der Welt der Felder gibt es keine abzählbaren, diskreten Teile, sondern nur Teilchen, die sich zu ständig variierenden Mustern zusammenziehen.  Anstatt von außen her durch Umgrenzungslinien, sind Felder von innen heraus, mittels gradierter Feldqualitäten strukturiert: Dichteverteilung, Ausrichtung, Agitationsgrad etc. Über Feldqualitäten charakterisierte Zonen gehen fließend ineinander über, oder durchdringen einander. Navigation funktioniert hier über Transformationsvektoren, und nicht mehr anhand von Landmarken oder Raumsequenzen. Ein Gefühl dafür bekommt man in den endlosen, unterirdischen Shopping Centern in Seoul, oder wenn man sich als Besucher ohne Vorplanung in ausufernden Metropolen wie London treiben lässt. Dann werden Feldqualitäten, wie der dorthin abfallende oder sich hierhin aufbauende Grad der Urbanität zum Orientierungsgerüst. So etwas lässt sich mit Schwärmen von parametrisch definierten, kontextsensitiven Genotypen („generativen Komponenten“) aufbauen, deren Feldverteilung und Ausdifferenzierung miteinander korrelieren und von untergelegten Datensätzen angetrieben werden. Damit experimentieren wir unter dem Titel „Parametric Urbanism“.
Dabei kommt es zu einer vorbehaltlosen „ideologischen“ Positionierung  - wir wollen in komplexen Feldern leben -, die diesen Projekten Manifesto-charakter zuspricht. Position zu beziehen heißt Unsicherheit zu absorbieren, um zunächst Diskussionsfähigkeit (und später Handlungsfähikeit) zu erzeugen.

2. Mit dem Ende eher homogener Stil-Epochen hat die „Lesbarkeit“ von Architektur (im Sinne eines allgemeinen Verständnisses) abgenommen. Zugleich geht die jüngere Heterogenität mit der weltweiten Dominanz einzelner Architekten einher, deren formale Identifizierbarkeit und/oder ausgearbeitete Branding-Strategien in einen neuen Populismus münden. Inwieweit hilft ein solcher Populismus, nicht nur Aufträge zu akquirieren, sondern insbesondere auch Positionen und Haltungen zu vermitteln, die im Sinne konventionellen Denkens und Agierens grenzüberschreitend, ggf. sogar konfliktträchtig sind?
P.Sch.:
Zunächst: Von ausgearbeiteten Branding-Strategien kann bei uns keine die Rede sein. Von Populismus deshalb ebenfalls nicht. Die formale Identifizierbarkeit von der Sie sprechen bezieht sich eher auf ganze Gruppierungen als auf Einzelfiguren. Ich glaube es zeigt sich da schon eine dominierende Strömung, die ich „Parametrismus“ nennen möchte. Die jüngere stilistische Heterogenität ist für mich eher ein Übergangsphänomen: Sowohl Postmoderne Architektur, als auch Dekonstruktivismus waren Schritte auf dem Weg zu einem langfristig tragfähigen Architekturstil der Gegenwart, ganz ähnlich wie Judendstil und Expressionismus im Rückblick Übergangsphänome in Bezug auf den 50 Jahre lang erfolgreichen Stil der Modernen Architektur waren. Jetzt setzt sich ein überzeugender Nachfolger der Moderne durch: Der Parametrismus. (Der Übergang vom sozio-oekonomischen System des Fordismus zum Post-fordismus hat eine Umwelzung auch des architektonischen und städtebaulichen Paradigmas nötig gemacht.)
Im Avantgarde-stadium lassen sich Stilrichtungen am besten analogisch als Forschungsprogramme (Imre Lakatos) oder als Paradigmen (Thomas Kuhn) begreifen. Perioden des Paradigmenwechsels sind Übergangsperioden, die den normalen, zielgerichteten Forschungsfortgang unterbrechen und heterogene Ansätze in philosophisch eingefärbten Grundsatzdebatten gegeneinander setzen bis sich eine der fermentierenden Richtungen durchsetzt. Meiner Auffassung nach fand das in den architektonischen Avantgarde-Diskursen der achziger Jahre statt. Seit den frühen neunziger Jahren hat sich in der Avantgarde eindeutig ein neues Paradigma umgreifend durchgesetzt. An der zielgerichteten Entwicklung, Durcharbeitung und Verfeinerung dieses Stils arbeiten wir und viele andere jetzt schon seit 15 Jahren mit einer absoluten Konsitenz der Grundbegriffe und zentralen Problemlagen, und ich gehe davon aus, dass das auf absehbare Zeit hin so weitergeht. Das aufgerissene Problem- und Lösungsfeld ist noch lange nicht ausgeschöpft.

3. Sie und Zaha Hadid haben in einem früheren Gespräch auf die Differenz zwischen Mainstream und Avantgarde hingewiesen, die unter anderem darin besteht, dass ein Avantgarde-Projekt über die konkrete aktuelle Aufgabenstellung hinaus auf die generelle Fähigkeit der Disziplin zur Lösung künftiger Probleme verweist. Welche Problemstellungen würden Sie konkret hervorheben?
P.Sch.:
Das Avantgarde-segment der Architektur ist ein spezialisierter Kommunikationszusammenhang, der für die permanente Innovation der gebauten Umwelt verantwortlich zeichnet. Der Ansporn zu permanenter Erneuerung ist über den hier beanspruchten gesellschaftlichen Universalwert der Orginalität verankert. Es lassen sich zwei zunächst unabhängige Ausrichtungen der Innovationsarbeit unterscheiden: Die Auseinandersetzung mit den fortschreitenden gesellschaftlichen Anforderungen einerseits und die Steigerung der architektonischen Entwurfsmittel andererseits. Zur Zeit äussert sich diese Bifurkation in der gleichzeitigen Prominenz von zwei parallelen Avantgarde-Gruppierungen: Der auf Koolhaas zurückgehenden „holländischen“ Tendenz mit Themen wie Peripherie oder Brand-culture einerseits, und der auf Eisenman zurückgehenden „amerikanischen“ Tendenz mit Entwurfstechniken wie Folding und Morphing andererseits. Dabei fällt auf dass diese Bifurkation die Avantgarde entlang der Unterscheidung von Form und Funktion aufspaltet. Der Diskurs der Holländer negiert die Form. Der Diskurs der Amerikaner negiert die Funktion. Insoweit wir diese Paralleldiskurse als Arbeitsteilung auffassen können, lassen sich hier durchaus Produktivitätsgewinne ausmachen: Es lässt sich eben wesentlich schneller und durchgreifender ein neues Formen-Repertoire aufbauen solange die gesellschaftliche Signifikanz ausgeklammert bleibt. Umgekehrt geht es mit der Aufbereitung neuer gesellschaftlicher und urbaner Herausforderungen wesentlich schneller, wenn man nicht gleichzeitig schon neue, raffinierte architektonische Lösungen anbieten muss (anstatt nur plakativ zu provozieren). Diese Arbeitsteilung ist unausweichlich, und damit rational, insoweit irgendwann und irgendwo Integrationsbemuehungen stattfinden, die die unabhängige Anhäufung von interessanten Problemen und abstrakten Loesungskapazitaten einer wechselseitigen Selektion aussetzen. Das von mir an der Architectural Association in London etablierte Design Research Lab (AADRL) hat sich ganz bewusst diese Aufgabe gestellt, naemlich die zwei prinzipiellen Strömungen der Avantgarde zusammenzuziehen und die neuen Entwurfstechniken und Formenrepertoires auf spezifisch daraufhin ausgewählte gesellschaftliche Problemlagen anzusetzen. Es wurde zum Beispiel eine tendenzielle Koinzidenz der Begriffe und Prinzipien zwischen der Architektur der Faltung und der neueren Organisations- und Managementlehre  festgestellt, um dann konkret das Konzept einer dreidimensional-porösen, schwamm-artigen Feldstruktur mit sich durchdringenden Feldern und Intensitaetsgradienten auf das Problem der architektonischen Artikulation einer komplexen Firmenorganisation mit fliessenden Abteilungsgrenzen und systematischen Kompetenz-ueberschneidungen angewandt. Die entsprechende drei-jaehrig angelegte Forschungsagenda erhielt den Titel Corporate Fields. Weitere AADRL Forschungsagenden: Responsive Environments und (derzeit) Parametric Urbanism.

 

4. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Erweiterung des Fokus auf interdisziplinäre Zusammenhänge, d.h. die Integration der Erkenntnisse fremder Disziplinen in die Architektur sowie die eigene Arbeit in Bereichen wie Ausstellungen, Kunst, Design?
P.Sch.:
In Bezug auf die architektonische Umsetzung von zeitgemäßen Konzepten der Unternehmensorganisation gab es einen ganz spezifischen Anlass zur Herstellung eines interdisziplinären Kommunikationszusammenhangs mit dem Diskurs der Organisations- und Managementlehre. Über derartige konkrete Projekt-Anlässe hinaus würde ich lieber von Inspirationen und Einflüssen reden, die zwischen den Disziplinen zirkulieren, ohne deren jeweilige selbstreferentielle Geschlossenheit zu durchbrechen. Die Philosophie spielt dabei eine ganz besondere Rolle als Umschlagsplatz für generalisierbare Konzepte, Schemata, und Methoden. Was das Verhältnis von Architektur und Kunst anbelangt möchte ich behaupten, dass es sich seit mindestens 80 Jahren um zwei vollständig voneinander abgekoppelte Kommunikationszusammenhänge handelt. Der Begriff der Baukunst, die Rede von der Architektur als einer der Künste, oder übliche die Rede von Kunst und Architektur in einem Atemzug, all das sind völlig überholte Anachronismen. (An diesem Punkt irrt auch Luhmann, der die Architektur im Kunstsystem verortet, allerdings ohne ihr da eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.) Die Abspaltung und separate Ausdifferenzierung der Architektur ist eine Frucht der Neu-Gründung der Disziplin als Moderner Architektur in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Diese These verteidige ich trotz des unverkennbaren Einflusses der abstrakten Kunst bei der Entfesselung der Modernen Architektur als „Kunst“ des Raumes. An der Geschichte des Bauhaus lässt sich dieser Scheidungsprozess mit allen dazu gehörigen Konfusionen und Verletzungen verfolgen. Seitdem behauptet sich Architektur in einer vehementen Selbstabgrenzung von der Kunst. Es finden sich da inzwischen auch kaum noch wechselseitige Anknüpfungspunkte. Die von Kritikern manchmal noch favorisierte Kategorisierung von Beiträgen zum Architekturdiskurs als Kunst  - gilt den so Missverstandenen Architekten als ist ein unverzeihlicher Affront. Diese Empfindlichkeit teilt auch Zaha Hadid. Wir haben tatsächlich nicht das geringste Interesse in der Kunst mitzumischen. Beim Ausstellungsdesign, und beim Produktdesign ist das anders. Hier fühlen wir uns berufen. Architektur, Moebel-design und Produktgestaltung teilen dieselben Diskursstrukturen: Grundunterscheidungen, Arbeitsweisen, und Evaluierungskriterien.

5. Inwieweit würden Sie Architektur die Kraft und Relevanz zusprechen, über architekturimmanente Fragestellungen hinaus auf gesellschaftliche Prozesse Einfluss zu nehmen bzw. auch an gesellschaftlichen Entwürfen zentral mitzuwirken? Und gegebenenfalls: Woran liegt es, dass zumindest der Eindruck entsteht, dass seit etwa den 60er-Jahren an entsprechenden Entwürfen nicht mitgewirkt wird?
P.Sch.:
Die architektonische Mitwirkung an „gesellschaftlichen Entwürfen“ setzt das Vorhandensein von begeisternden und plausiblen Gesellschaftsentwürfen voraus. Bisher hat der Übergang vom Fordismus zum Postfordismus auf der Ebene des politischen Systems nur Erosionserscheinungen gezeitigt. Eine positive, den neuen Bedingungen angepasste Umwälzung des politischen Systems ist nicht in Sicht. Vielleicht wird auch hier eine neue Lösung irgendwann auf der produktiven Einbeziehung der Mikro-elektronischen Revolution beruhen. Bis dato ist davon noch nichts politisch fassbar.
Darüber hinaus von ganzen Gesellschaftdsentwürfen zu Reden scheint aus prinzipielleren Gründen problematisch. Wir haben in den Begleittexten zu der von uns 2003 kuratierten Ausstellung „Latente Utopien“ darauf hingewiesen, dass Blaupausen zukünftiger Gesellschaftsmodelle an einer prinzipiellen Plausibilitätskrise stecken, die auf eine objektive Komplexitätsbarriere verweisen. Gesammtgesellschaftliche Planung im relevanten Maß-Stab von Weltgesellschaft muss hoffnungslos erscheinen, umsomehr wenn wir im Sinne Luhmann’s davon ausgehen, dass Gesellschaft heute mehr und mehr in weltumspannende, weitgehend selbstregulierende Funktionssystem differenziert ist, ohne zentrale Kontrollinstanz. Übrigens gehe ich davon aus, dass Architektur ein solches weltumspannendes, autonomes Funktionssystem ist, dass für die permanente, adaptive Innovation der gebauten Umwelt verantwortlich zeichnet, freilich ohne Garantie der Relevanz und Durchsetzbarkeit seiner Kommunikationsangebote.
End.



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